Micheal Haneke: Schrecken und Utopie der Form | ray Filmmagazin (2024)

Ein Esel hat keine Psychologie, nur ein Schicksal –
Robert Bressons „Au hasard Balthazar“

„Mithin müßten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ Heinrich von Kleist „Über das Marionettentheater“

Der erste Filmbesuch, an den ich mich – dunkel – erinnere, war Lawrence Oliviers Hamlet. Da der Film erst 1948 gedreht wurde, muß ich mindestens sechs Jahre alt gewesen sein. Natürlich habe ich den Film später mehrfach wiedergesehen, und so kann ichnicht mehr exakt auseinanderhalten, was ich bei diesem ersten Mal erfahren habe und was Erinnerung anspätere Sichtungen ist. Ich erinnere mich aber genau an das Dunkelwerden des ohnehin dunkel getäfelten Kinosaals zu Beginn der Vorstellung, das gravitätische Aufgehen des Vorhangs und die düsteren Bilder desmeerumbrandeten Schlosses von Helsingör zu einer ebenso düsteren Musik. Und dann erinnere ich mich, daß meine Großmutter – die damals mit mir im Kinosaal saß – mir Jahre später erzählt hat, daß sie das Kino mit mir nach nicht einmal fünf Minuten verlassen mußte, weil ich ob all dieser düsteren Bilder und Töne vor Angst schrie. Kurz darauf – es muß im gleichen Jahr gewesen sein, denn es war noch vor meinem Schuleintritt – war ich im Zuge eines Hilfsprogramms für Kinder aus den Kriegsverliererstaaten drei Monate auf „Erholung“ in Dänemark. Zum ersten Mal für längere Zeit von zu Hause weg, fühlte ich mich sehr elend. Meine dänischen Zieheltern bemühten sich, meinen Kummer zu zerstreuen und führten mich ins Kino. Es war ein regnerisch-trüber Spätherbsttag, kalt und unfreundlich, und der Film, dessen Titel und Handlung ich vergessen habe, spielte in Afrikas Urwald und Savanne. Auch hier erinnere ich mich genau an den langgestreckten, schmalen, düsteren Kinosaal mit den seitlich sich direkt zur Straße öffnenden Türen.

Der Film enthielt viele Fahraufnahmen, offenbar aus einem Geländewagen heraus gedreht, vor dem Antilopen, Nashörner und anderes nie gesehenes Getier ständig davonliefen. Ich saß mit in diesem Auto und kam aus Staunen und Freude nicht heraus. Schließlich war der Film zu Ende, das Licht im Saal ging an, die Türen auf die dämmerige Straße wurden geöffnet, draußen strömte der Regen, der Verkehrslärm drang herein, die Leute spannten ihre Schirmeauf und traten ins Freie. Für mich aber war es wie ein Schock: Ich begriff nicht, wie ich, der ich doch bis vor Sekunden noch in Afrika zwischen den Tieren in der Sonne gewesen war, jetzt so schnell wieder hier sein konnte. Das Kino, das für mich ein Wagen war, in dem ich fuhr, konnte doch nicht – und vor allem nicht so schnell – zurückgefahren sein ins nördlich-kalte Kopenhagen! Wenn ich an die Unmittelbarkeit und Heftigkeit dieser beiden ersten Kinoerinnerungen denke, fallen mir immer jene Indianerstämme ein, denen man kurz nach ihrer „Entdeckung“, also kurz nach ihrer ersten Konfrontation mit der sogenannten Zivilisation, mittels im Urwald installierter Projektionseinrichtungen Filme vorgeführt hat. Nach den Berichten der Vorführer sollen die Wilden in Panik davongestoben sein und sich kaum haben beruhigen lassen. Nach dem Grund dafür gefragt, stellte sich nach langem verschrecktem Schweigen heraus, daß sie die Kadrierung der Bilder als reale Verstümmelung der im Film gezeigten, aber für sie real vorhandenen Personen empfanden: die Großaufnahme eines Kopfes war für sie der tatsächlich vor ihnen sprechende und sich bewegende abgeschlagene Kopf einer leibhaftig anwesenden Person, die ja auf Grund dieser Verstümmelung längst hätte tot sein müssen! Das Wissen um jene magische, Schrecken und Entzücken gleichermaßen evozierende Macht lebender Bilder ist in einer Welt, die schon den Neugeborenenan die ständige Präsenz virtueller Realität im heimischen Fernsehgerät gewöhnt, weitgehend in Vergessenheit geraten. (Fraglich bleibt, inwieweit im abendlichen Dunkel des Kinderzimmers der magische Schrecken sein den Erwachsenen längst nicht mehr wahrnehmbares Recht einfordert.) Ich war in einer Welt aufgewachsen, in der Fernsehen – noch – nicht existierte, und der Besuch eines der drei Kinos, die es in unserer Kleinstadt gab, war für das Kind und in den folgenden Jahren für den Jugendlichen immer ein rares, ungewöhnliches und damit kostbares Ereignis – ich weiß nicht, inwieweit sich diese Erfahrung überhaupt an Menschen weitergeben läßt, die später geboren wurden und in einer Welt aufwuchsen, aus der die ständige Anwesenheit konkurrenzierender Bilderfluten gar nicht mehr wegzudenken ist.

Als Primaner sah ich Jahre später Tony Richardsons Fielding-Verfilmung Tom Jones. Der Film erzählte die wendungsreiche Entwicklungsgeschichte eines Findelkinds aus dem England des achtzehnten Jahrhunderts, war witzig und temporeich inszeniert und erfolgreich darum bemüht, den Zuschauer zum Komplizen seines sinnenfrohen Helden zu machen. Plötzlich, es mochte bereits ein Drittel des Films hinter uns Iiegen, blieb der Titelheld mitten in einer atemraubenden Verfolgungsjagd für einen Augenblick stehen, blickte in die Kamera (also mich an!) und machte, bevor er weiter seinen Verfolgern davonlief, mit einer kurzen Bemerkung über die Schwierigkeit seiner Lage mir die meine bewußt. Der Erkenntnisschock dieses Moments stand den Schrecken meiner ersten kindlichen Kinoerlebnisse nicht nach: Natürlich wußte ich längst, daß Kino nicht Realität war, natürlich hielt ich mir die unangenehme Nähe der virtuellen Wirklichkeit eines Spannungsfilmes längst mit ironischen Bemerkungen vom Leib und vermeintlich auch von der Seele, aber niemals vor dieser schockartigen Entdeckung meiner dauernden Komplizenschaft mit den Filmhelden hatte ich die schwindelnde Nähe erlebt, die Fiktion und Realität trennt, niemals vorher hatte ich sinnlich erfahren, wie sehr ich und meinesgleichen, also das Publikum, gemeinhin Opfer statt Partner derer waren, die uns hier gegen Bezahlung „unterhielten“.
Natürlich hatte ich Kenntnis davon, was die Macht der lebenden Bilder im Dienste von Ideologien ausrichten konnte, aber diese Kenntnis war nichts als ein Abstraktum gewesen, das, wie alle Abstrakta, bloß dazu gut war, direkte Erfahrung zu verhindern. Jetzt fielen mir auch – Wochen später – jene ersten Kinoerlebnisse ein und ihre überwältigende Wirkung, deren Schrecken und Freude ich langst verdrängt hatte. Ich hatte hinter den Spiegel geschaut und begann, das Kino mit anderen Augen zu sehen, den Erzählern von Geschichten zu mißtrauen, die mir vortäuschten, ungebrochene Wirklichkeit wiederzugeben.

Gleichwohl war mein Hunger nach Geschichten gestillt – was ich im Kino suchte, war mir nicht klar. Es war wohl eine Filmkunst, die mir das Erlebnis unmittelbaren Berührtseins, der wunderbaren Verzauberung meines Kindheitskinos bewahren, mich aber trotzdem nicht zum unmündigen Opfer der erzählten Geschichte und ihres Erzählers machen sollte. Daß ich, schon Student, schließIich Bressons Film sah, verdankte ich einem Filmseminar unseres Universitätsinstituts, das den Studenten ermöglichte, einen Teil jener Filme kennenzulernen, die als schwerverkäufliche „Kunstprodukte“ erst gar nicht unsere Kinos erreichen sollten. Der Film schlug in unserem Seminar ein wie ein aus fernen Welten abgestürztes Ufo und spaltete uns in fanatische Anhänger und wütende Gegner: provokant, fremd und überraschend, brach er mit allen Goldregeln des Mainstreamkinos diesseits und jenseits des großen Ozeans ebenso wie mit jenen des sogenannten europäischen „Kunstfilms“ und war doch in geradezu erschreckender Weise vollendet in seiner absoluten Identität von Inhalt und Form. Daß diese Vollendung eine Entwicklungsgeschichte hatte, begriff ich erst später, als ich Gelegenheit bekam, die vorangegangenen Filme Bressons zu sehen.

Trotzdem, undauch trotz seiner Meisterwerke danach, ist mir Au hasard Balthazar bis heute der kostbarste unter allen cinematographischen Edelsteinen. Kein Film hat mir je Hirn und Herz so umgedreht wie dieser. Was war, was ist das Besondere an ihm? Balthazar ist ein Esel. Der Film erzählt seine Lebens-, Leidens- und Sterbensgeschichte. Und er erzählt – in Fragmenten – die Geschichten jener, die Balthazars Weg kreuzen. Der Anfang: Noch im Dunklen, vor der Aufblende des ersten Bildes, das Glockengeläut einer Schafherde; dann die erste Einstellung: nah, das Eselkind trinkt zwischen den Beinen seiner Mutter, im Hintergrund ahnen wir die Schafherde mehr als wir sie sehen, nur ihre Glocken tönen sanft und gleichmütig. Dann schlingt sich ein dünner Kinderarm um den Hals des Tieres, zieht es von der Mutter weg, die Kamera schwenkt mit, wir sehen das kleine Mädchen, das den Esel zärtlich umarmt, einen etwa gleichaltrigen Knaben, auch er zu dem Tier gebeugt und es streichelnd, dazwischen im Hintergrund einen Mann. Alle sind leicht gekleidet, es ist Sommer. „Schenk ihn uns! Bitte, Vater!“ „Was wollt ihr denn mit ihm?“ Totale: Die Kinder laufen mit dem Vater, der den kleinen Esel mit sich zieht, von der Bergweide talwärts. Das Glockengeläut der Schafherde ist verstummt. Nah: aus einem kleinen Krug gießt eines der Kinder Wasser auf das Haupt des Esels und sagt: „Balthazar. Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Das Ende: Balthazar trägt die Lasten eines Schmugglerduos – sie sind dabei, ein Grenzgebirge zu überschreiten. Es ist Nacht. Plötzlich das „Stehenbleiben!“ der Zöllner. Die Schmuggler laufen den Weg zurück, den sie gekommen sind. Während wir Schüsse hören, sehen wir Balthazars Gesicht, lange, dann setzt auch er sich in Bewegung, hinunter, dorthin, wo seine ihn ständig quälenden Herren gerade entflohen sind. Tag. Balthazar steht still zwischen den Nadelbäumen des Gebirges. Nah, seine Schulter – aus einem Einschußloch sickert Blut. Er setzt sich in Bewegung, verläßt den Unterstand, hinaus in die unberührte Hochweidenlandschaft, immer noch die Schmuggellast auf seinen Schultern. Geläut einer Herde. Da sehen wir auch die Schafe herankommen, die schwarzen Hirtenhunde umspringen sie bellend, die Glocken der Tiere läuten. Ein Schäfer. Einzelne Hunde. Dann steht die Herde rund um Balthazar, er ist kaum zu sehen, so sehr ist er eingehüllt von Schafen, die Glocken läuten nahe. Die dunklen Hunde. Die Schafe setzen sich in Bewegung – sie geben allmählich den Blick frei auf den nun am Boden sitzenden Esel. Wieder die Hunde. Dann sind die Schafe in den Hintergrund gewichen – vorne Balthazar. Die Musik setzt ein – jenes todtraurige Andantino aus Schuberts A-Dur-Sonate, das den Lebensweg Balthazars im Laufe des Films immer wieder mitleidend und zugleich trostverheißend begleitet hat. Langsam, ganz langsam senkt Balthazar den Kopf. Dann bildfüllend nur die Herde – sie ist in Bewegung, führt uns zurück zu Balthazar, er liegt da, ausgestreckt auf dem Weideboden und rührt sich nicht mehr. Die Musik bricht ab. Nur noch das Glockenläuten. Die Schafe wandern in den Bildhintergrund, in die Tiefe der Gebirgslandschaft hinein. Vorn: der tote Balthazar. Die Glocken werden leiser. Aus. Dazwischen liegt ein Leben, das in seiner traurigen Schlichtheit für jenes von Millionen steht, ein Leben der kleinen Freuden und großen Mühen, banal, sensationslos, und wegen seiner deprimierenden Alltäglichkeit für die Ausschlachtung auf der Filmleinwand denkbar ungeeignet. Eigentlich ist von niemandem, also von jedem die Rede – ein Esel hat keine Psychologie, nur ein Schicksal. Der Titel ist die exakte Wiedergabe der Intention des Films: „Zufällig, beispielsweise Balthazar.“ Es könnte jeder andere sein, du oder ich. Den Namen, sagt Bresson, habe er wegen der Alliteration gewählt.

Das klingt nach Beliebigkeit und Allerweltsproblematik und ist in Wahrheit das genaue Gegenteil. Bressons „Modell“-Theorie, seine rigorose Ablehnung professioneller Schauspieler zugunsten treffend ausgewählter Laiendarsteller ist oft diskutiert undnoch öfter kritisiert worden – sie war es letztlich auch, die den finanziellen Erfolg seiner Filme verhindert hat. Hier in Balthazar läßt sich das Motiv dieser Theorie am leichtesten ablesen und findet ihre klarste und stimmigste Ausformung: Der „Held“ auf der Leinwand ist kein zur Identifikation anstiftender Charakter, der uns Gefühle vorlebt, die wir nachempfinden dürfen, sondern eine Projektionsfläche, ein unbeschriebenes Blatt, dessen einzige Aufgabe es ist, mit den Gedanken und Gefühlen des Zuschauers gefüllt zu werden. Dieser Esel spielt uns nicht vor, daß er traurig ist oder leidet, wenn das Leben ihm zusetzt – nicht er weint, wir weinen über eine Ikone der erzwungenen Duldsamkeit, gerade weil sie nicht wie ein Schauspieler mit der Sichtbarmachung ihrer Gefühle hausiert. Das Tier Balthazar und die in ihren scheppernden Rüstungen bis zur Unkenntlichkeit eingesperrten Ritter aus dem späteren Lancelot du Lac sind Bressons überzeugendsten „Modelle“, einfach weil sie unfähig sind, uns etwas vorzumachen. Nicht immer ist Bressons „Modell“-Konzept aufgegangen. Unter Laien kann ebenso unzureichend besetzt werden wie unter Schauspielern. Dennoch war und ist das Nicht-Spiel seiner immer sorgfältig, ja liebevoll ausgesuchten Laien, die Monotonie ihrer Sprech- und Bewegungsweise, ihr auf bloße Präsenz reduziertes Vorhandensein ein befreiendes Erlebnis (weit mehr, als es die saloppe „Natürlichkeit“ der jungen Darsteller in den zerebralen Feuerwerken und höheren Juxen seines jüngeren Zeitgenossen Godard war), gab es doch den Menschen vor der Kamera ihre Würde zurück: Niemand mußte sich mehr verstellen, um Empfindungen sichtbar zu machen, welche gespielt ohnehin nur eine Lüge sein konnten. Ich hatte es immer als obszön empfunden, einem mit darstellerischem Furor gestalteten Leiden oder Sterben zuzusehen – es stahl den tatsächlich Leidenden und Sterbenden ihr letztes Gut: die Wahrheit. Und es stahl den Betrachtenden dieser professionellen Reproduktionen ihr kostbarstes Gut als Betrachter: ihre Phantasie. Sie wurden in die beschämende Schlüssellochperspektive des Voyeurs gedrängt, dem nichts übrigblieb, als ihm Vorgefühltes nachzufühlen, Vorgedachtes nachzudenken. Das Kino hatte in seiner im Vergleich zur Literatur neuen Möglichkeit, Realität als Gesamt-Sinneseindruck abzubilden, verabsäumt, Formen zu entwickeln, die den zwischen Kunstprodukt und Rezipienten notwendigen Dialog aufrechterhielten beziehungsweise ihn überhaupt erst ermöglichten. Die Lüge, Vorgetäuschtes sei Realität, war zu seinem Markenzeichen geworden. Es blieb eines der gewinnträchtigsten der Industriegeschichte.

Man spürt in Balthazar, wie in allen Filmen Bressons, eine fast körperliche Aversion ihres Autors gegen jegliche Form der Lüge, insbesondere gegen jede Form des ästhetischen Betrugs. Diese grimmige Abneigung scheint die Antriebskraft seiner gesamten Arbeit zu sein. Sie führt zu einer Reinheit der erzählerischen Mittel, die in der Filmgeschichte ihresgleichen sucht. Beim Lesen der Beschreibung von Anfang und Ende des Films mag sich bei einem Leser, der Bressons Filme nicht kennt, der Eindruck von „Poesie“, von gesuchter Schönheit, von prätentiöser Stilisierung einschleichen. Nichts davon im Film: dokumentarische Schlichtheit der Kadrierung, eine fast manische Verweigerung „schöner“, sprich: gefälliger Bilder (wie man sie in seinen ersten Filmen noch hin und wieder finden konnte und wie sie das heutige Kunstkino ebenso beherrschen wie das amerikanische A-Picture und den Werbespot) – ja, man könnte zugespitzt sagen, daß Bresson der Erfinder des „schmutzigen“ Bildes im Kunstfilmbereich ist. Neben dem immer spürbaren Willen, die Dinge so klar und einfach wie möglich zu zeigen, bewahrt ihn ein untrüglicher Instinkt vor den Gefahren sterilen Stilisierens, immer wirken seine Bilder bei aller Genauigkeit der Kadrierung wie ausgefranst, offengehalten für den Regelbruch der Wirklichkeit. Seine bekannten Kämpfe mit für die Schönheit ihrer Bilder berühmten Kameraleuten wie De Santis dürften, denke ich, darin ihre Ursache haben. Statt „Schönheit“ Genauigkeit – jedes Bild zeigt nur das Notwendigste, jede Sequenz ist auf ihre knappste Form komprimiert, gleichwohl sind Einstellungs- und Schnittlängen selbst für die Entstehungszeit des Films (1965) ungewöhnlich ruhig. Niemals geben Fermaten der Sentimentalität Raum, alles wirkt in seiner Einfachheit wie natürlich gewachsen und ist, obschon im Dienst eines rigorosen ästhetischen Konzepts, niemals dessen Opfer. Allem Geschehen und Handeln ist die Polyvalenz des wirklichen Lebens bewahrt – der Autor ergreift nie Partei, immer ist der Betrachter aufgerufen, seine persönliche Beurteilung vorzunehmen, frei zu entscheiden, seine eigene Wahrheit und deren Interpretation zu finden. Die sieben Todsünden hatte er in den Personen des Films darzustellen versucht – aber solcher Auskunft steht der Satz aus seinen „Notes sur le cinématographe“ gegenüber: „Die Ideen verbergen, aber derart, daß man sie findet. Die wichtigste wird die verborgenste sein.“ Und an anderer Stelle heißt es da: „HersteIlung der Emotion, erlangt durch einen Widerstand gegen die Emotion.“ Und: „Aus dem Zwang zueiner mechanischen Regelmäßigkeit, aus einer Mechanik wird die Emotion entstehen.“ Zur Erläuterung führt er das Klavierspiel Dinu Lipattis an: „Ein großer, nicht virtuoser Pianist schlägt unerbittlich gleiche Noten an: Halbe, gleiche Dauer, gleiche Intensität; Viertel, Achtel, Sechzehntel usw., idem. Er haut nicht die Emotion in die Tasten. Er wartet auf sie. Die kommt und überfällt seine Finger, das Klavier, ihn, den Saal.“

Ich besitze eine Video-Aufzeichnung der Preisverleihung in Cannes 1983, wo die Goldene Palme gleichzeitig an den inzwischen sechsundsiebzigjährigen Bresson für seinen letzten Film L’Argent und an Andrei Tarkowski für Nostalghia verliehen wurde. Als Bresson, von Orson Welles aufgerufen, die Bühne betritt, bricht ein Tumult los, ein wütender akustischer Kampf zwischen Buh-Schreiern und Akklamierenden, es muß mehrfach um Ruhe gebeten werden – erst als Tarkowski auf die Bühne geholt wird, legt sich der Proteststurm. (Tarkowski, seinerseits ein erklärter Bewunderer Bressons, mag damit nicht glücklich gewesen sein, hatte er doch an den Filmen seines Vorbilds gerade jene Unabhängigkeit vom sogenannten Publikumsgeschmack gerühmt, für die Bresson nun vor seinen Augen ausgebuht wurde, während man ihm, dem gleichfalls als Hermetiker Verschrieenen, zujubelte). Was an Bressons Filmen hat dieses Verhalten im Saal von Cannes – das für das Verhalten des weltweiten Publikums stand oder wenigstens stehen wollte – verursacht?

Am Inhalt mochte es nicht liegen – Filme, die vom bitteren Zustand des Weltgeschehens erzählen, gibt es bei jedem Festival im Überfluß; je wohliger und schicker sie sich im Unbehagen einrichten, desto mehr Chancen haben sie, von Juroren und Feuilleton dafür bedankt zu werden. Was ist das so Andere in seiner Art, mit Bild und Tonumzugehen, daß es für Bresson selber nötig schien, einen aus dem Sprachgebrauch gekommenen Begriff, den „Kinematographen“, für sich neu zu reklamieren, weil er mit dem, was sich Kino nannte und nennt, keine gemeinsame Sprache und keinen gemeinsamen Sinn mehr fand? Ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen von Au hasard Balthazar hatte Adorno in seinem Essay „Über Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans“ in Bezug auf Kafka geschrieben: „Seine Romane, wenn anders sie unter den Begriff überhaupt noch fallen, sind die vorwegnehmende Antwort auf eine Verfassung der Welt, in der die kontemplative Haltung zum blutigen Hohn ward, weil die permanente Drohung der Katastrophe keinem Menschen mehr das unbeteiligte Zuschauen und nicht einmal dessen ästhetisches Nachbild mehr erlaubt.“ Und an anderer Stelle, sich auf Dostojewski beziehend: „Kein modernes Kunstwerk, das etwas taugte und nicht an der Dissonanz und dem Losgelassenen auch seine Lust hatte. Aber indem solche Kunstwerke gerade das Grauen ohne Kompromiß verkörpern und alles Glück der Betrachtung in die Reinheit solchen Ausdrucks werfen, dienen sie der Freiheit, die von der mittleren Produktion nur verraten wird.“ Die Illusion, Wirklichkeit wäre im Artefakt abbildbar und nicht immer nur eine Vereinbarung zwischen demKünstler und seinem Rezipienten, war – seit Nietzsche in Zweifel gestellt – spätestens seit den inkommensurablen Greueln von Naziherrschaft, Holocaust und Weltkrieg für jeden obsolet geworden, der versuchte, sich in diesem Tätigkeitsfeld auch nur einigermaßen mit Bewußtsein zu bewegen. Das Verdikt, nach Auschwitz wäre kein Gedicht mehr möglich, steckte den Bewußtseinshorizont der Überlebenden und Nachgeborenen ebenso ab wie die Zurücknahme der Neunten Symphonie samt abendländischer Kultur in Thomas Manns „Doktor Faustus“.

Im deutschen Sprachraum warfen sich die verstörten Erben der Schuld mit vom Schrecken geweiteten Augen auf die Selbstanalyse jener Wörter und Zeichen, die sich als so korrumpierbar erwiesen hatten, aber auch jenseits der Sprachgrenze hatte der Glaube an die Unverbrüchlichkeit des Bündnisses zwischen Kunst und Rezeption einen vernichtenden und gleichzeitig produktiven Stoß bekommen. Einzig das Kino, die teure, geldabhängigste Form artifizieller Kommunikation, verweigerte konsequent jede reflektive Erneuerung. Die neuen Inhalte, Positionen oder vermeintlichen Erkenntnisse wurden in den alten, längst desavouierten Formen präsentiert. Und die angebliche Unterscheidung zwischen der sich in dreistem Selbstbewußtsein darstellenden Betäubungsschnulze rechter wie linker Provenienz vom sogenannten „progressiven Kunstfilm“ blieb nichts als eine Selbstrechtfertigungs-Farce der von der Filmindustrie lebenden Artisten und Interpretatoren. Für Inhalte und Sinnkrise einer zerborstenen Welt hatten im Dienste der Geldgeber Formen gefunden zu werden, die diese Inhalte verrieten, indem sie sie konsumierbar machten – anders würden sie nicht stattfinden. Natürlich wurden die Formen gefunden, sie wurden verfeinert und akkumuliert, und über dieser Arbeit vergaß der Großteil der damit Beschäftigten, wozu sie überhaupt unternommen wurde. Eine polemische Verkürzung? Ich denke, sie ist nötig, um ausdrücken zu können, was dieses Skandalon Bresson in der Welt der bewegten Bilder so provokant machte und macht.

Um in der Welt des Spielfilms (um das deutliche Wort Filmgeschäft zu vermeiden) vorhanden zu sein und zu bleiben, sahen sich auch jene, die die oben beschriebene Spielregel durchschauten und verachteten, gezwungen, sie anzuerkennen beziehungsweise sich in ihren Dienst zu stellen. Wieweit sie dies in bewußter Distanznahme oder bis ins Unterbewußtsein geprägt taten, davon erzählen ihre Versuche, dieseSpielregel spielend zu umgehen. Sobald einzelne Werke aus diesem – dank wirtschaftlichem Zwang wieder hergestellten – stillschweigenden Einverständnis über die Notwendigkeit künstlerischer Inkonsequenz herausfielen, „fielen sie durch“, wurden gekürzt, umgeschnitten, kastriert, als einmalige und daher gerade noch entschuldbare Entgleisung ihrer Autoren angesehen, dem für den Markt ungefährlichen Bereich des Experimentalfilms zugeordnet oder bestenfalls als die Regel bestätigende Ausnahmen halbherzig von Teilen der Kritik toleriert.

Das Aufregendste und Wahrhaftigste, was der Film zu bieten hat, rekrutiert sich aus dieser Ausnahmekategorie: Pasolinis Salò, Tarkowskis Serkalo, einzelne Filme von Ozu, Rossellini,Antonioni, Buñuel und Resnais, Kluge und Straub und einer Handvoll anderer. Was geschieht dort? Die Filme sind unterschiedlich wie ihre Autoren und die Kulturkreise, aus welchen sie stammen. Was sie gemeinsam haben, was sie von der übrigen Kinoproduktion, ja selbst von den übrigen Werken derselben Autoren unterscheidet, ist ihre gelungene Identität von Inhalt und Form. Sie zerbricht das faule Einverständnis zwischen Dargestelltem, Vermittler und Rezipienten, verhindert das Schließen der Augenlider wie der optische Folterstuhl in Kubricks A Clockwork Orange und zwingt den Blick in den Spiegel: Was für ein Anblick! Was für ein Schrecken! An die Lüge gewohnt und in ihr luxuriös eingerichtet, verlassen die Aufgestörten den Kinosaal. Hungrig nach einer Sprache, die die Spuren des Lebens nachzuzeichnen in der Lage ist und mit plötzlich geöffnetem Herz und Hirn warten die Übriggebliebenen auf eine Fortentwicklung des unerwartet stattgehabten Glücksfalls. Wenigen der oben genannten Autoren ist diese Identität von Dargestelltem und Darstellungsmittel mehrfach geglückt. Sie haben wieder zurückgefunden auf leichter begehbare Pfade – die Sturmwarnungen des Mißerfolgs wollen beachtet, die Treue einer Gefolgschaft will belohnt sein, und je größer die Gefolgschaft, desto breiter und ausgetretener ihr Pfad. Am besten aber verdienen die Errichter von Autobahnen.

Die Kontinuität Bressons wirkt in diesem Umfeld nachgerade wie ein Wunder: nach zweieinhalb tastenden Anfangsschritten, in welchen der Themenkatalog seines späteren Werks bereits enthalten ist (dem kurzen Les Affaires publiques und den beiden Erstlingsfilmen Les Anges du péché und Les Dames du bois de Boulogne) hat er 1950 mit Journal d’un curé de campagne sein Formenvokabular vollständig entwickelt und bleibt ihm für die Dauer seines Gesamtwerks (weitere zehn Filme innerhalb von dreiunddreißig Jahren) unbeirrbar verpflichtet.

Von fast allen großen Filmautoren sagt man, sie drehten in all ihren Werken immer wieder den gleichen Film. Auf keinen trifft dies so zu wie auf Bresson. Süchtig sein nach Wahrhaftigkeit – das läßt in der Tat keine Wahl. „Denk nicht an deinen Film außerhalb der Mittel, die du dir gemacht hast“, schreibt er in den „Notes“. Und tatsächlich ist bei Betrachtung der Filme nicht auszumachen, ob die Mittel den Inhalt bedingt haben oder umgekehrt, so sehr sind beide ein und dasselbe. Ihre Identität läßt keinen Raum für Ideologie oder Welterklärung, für Kommentar oder Trost. Alles geht auf in reiner Bezüglichkeit, und es ist am Betrachter, Schlüsse aus der Summe der Anordnungen zu ziehen.

Reduktion und Auslassung werden die Zauberschlüssel zur Aktivierung des Betrachters. Insofern ist es gerade die Hermetik des Bressonschen Œuvres, die es dem Zuschauer leicht machen will: Sie nimmt ihn ernst.

Ausgelassen ist der Überredungsgestus emotionaler Identifikationsvorgaben. Ausgelassen ist der (allzu) bündige Sinn des soziologischen und psychologischen Erklärungszusammenhangs – der Zufall und die Widersprüchlichkeit fragmentarischer Handlungssplitter fordern wie in unserer täglichen Erfahrung ihr Recht und unsere Aufmerksamkeit.

Ausgelassen wird die Vortäuschung jedweder Ganzheit bis hinein ins Abbild des Menschen – Rumpf und Gliedmaßen fügen sich nur noch für flüchtige Augenblicke zusammen, sind separiert, den Dingen gleichgestellt und ausgeliefert, das Gesicht ist ein Teil unter vielen geworden, eine unbewegliche, ausdruckslose Ikone der Melancholie über den Verlust der Identität. Ausgelassen ist das Außergewöhnliche, weil es die Not des Alltäglichen um ihre Würde betröge.

Ausgelassen ist endlich das Glück, weil durch seine Darstellung das Leid und der Schmerz geschändet würden. Und gerade diese universale Zurücknahme (die jener des Mannschen „Faustus“ so unverwandt nicht ist), dieser zärtliche Respekt vor Wahrnehmungsfähigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen, bergen in ihrem Verweigerungsgestus mehr Utopie als alle Bastionen der Verdrängung und des billigen Trostes zusammen.

Die Identität von Inhalt und Form löst eine Ahnung jenes Sinnzusammenhangs ein, der der beschriebenen Welt abhanden gekommen ist. In der Aussparung des gezeigten Glücks bekommt das Wünschen Flügel, und für die glückhafte Sekunde der Betrachtung ist der Schmerz in seiner Ikone gebannt.

Micheal Haneke: Schrecken und Utopie der Form | ray Filmmagazin (2024)

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